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Im Dovrefjell-Sunndalsfjella-Nationalpark

Reisebericht
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Das erste Abenteuer
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Flughafen Oslo: Kurz vor Abfahrt des Zuges Richtung Trondheim nach Kongsvoll.

Unsere erste größere Trekkingtour sollte also in Norwegen stattfinden. Für das wilde Dovrefjell haben ich und Marcel uns entschieden mit eventueller Besteigung des Snøhetta (2286 m). Packlisten, Ausrüstungsoptimierungen, das große Thema Lebensmittel... unsere Rucksäcke mussten dutzende Male neu gepackt werden und am Ende waren sie immer noch zu schwer. Aber irgendwann ging es dann los und auch wenn das Thema Trinkwasser in Norwegen kein Problem darstellt, zu wenig Nahrung wollten wir auf keinen Fall dabei haben. Mein Rucksack lag zuletzt bei 25 Kilogramm, eigentlich zu schwer für diese Gegend. Am Reisetag hat Marcel dann noch seinen Anschlussflug verpasst, was dazu führte, dass sein Gepäck nicht korrekt verladen wurde und daher nicht in Oslo angekommen ist. Da wir kein Handgepäck hatten und alles Lebensnotwendige sowie die gesamte Ausrüstung sich im Rucksack befand, wären wir natürlich aufgeschmissen gewesen. Glücklicherweise wurde es mit dem letzten regulären Flieger nachgeschickt, so dass dem planmäßigen Start Richtung Trondheim am nächsten Morgen nichts mehr im Weg stand, doch die Verzögerung hat diesen Tag unnötig in die Länge bis weit nach Mitternacht gezogen. Unser schon daheim für diese eine Nacht gebuchtes Hostel war für ein Hostel geradezu luxuriös. Schnell schliefen wir ein, denn morgen sollte es endlich los gehen.

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Bahnhof Kongsvoll: Viel mehr Häuser hat dieser Ort auch nicht zu bieten.

Am nächsten Morgen liefen wir zum Bahnhof und suchten uns einen gemütlichen Fensterplatz. Kaum dem typischen Flughafengelände entflohen sprangen einem auch schon die typischen norwegischen Landschaften ins Auge. Riesige Seen, Berge soweit das Auge reicht und alles in einer Naturbelassenheit, die man in Deutschland nirgendwo mehr antreffen wird. Nach der Hälfte der Zugstrecke kamen wir unserem Zielgebiet näher. Im Westen sahen wir bereits die schneebedeckten Gipfel von Jotunheimen, dem größten Gebirge in Norwegen, mit solch riesigen Seen links und rechts, dass man sich teilweise fragen musste, worauf denn der Zug eigentlich fährt. Doch Jotunheimen war nicht unser Ziel: Nach zwei Drittel der Strecke hielt der Zug in Kongsvoll, unserem sogenannten Aussetzungsort, treffender konnte man diese drei Gebäude hier nicht bezeichnen. Noch immer sah man zahlreiche Bergspitzen herausragen, die nun jedoch dem Dovrefjell angehörten. Lange Zeit galt das Dovrefjell als höchstes Gebirge Norwegens, welches nach genaueren Messungen nun aber von Jotunheimen überragt wird. Gut, jetzt war also Schluss mit lustig und hier standen wir nun mit unseren Rucksäcken, vollgefüllt mit Nahrung, Ausrüstung und allem was man braucht um für acht Tage auf nichts anderes mehr angewiesen sein zu müssen. Alleine waren wir nicht, denn mit uns ist ein Pärchen ausgestiegen, welches allerdings die Straße entlang verschwunden ist. Wahrscheinlich eine andere Tour, schnell waren die beiden vergessen und wir waren allein, absolut allein. Ein kurzer Blick auf die Karte und wir haben den Startpunkt unserer gut gekennzeichneten Route gefunden, erste Warnhinweise zu den hier lebenden Moschusochsen inklusive. Also dann, los gehts!

Steil bergauf
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Abfließendes Gletscherwasser: Ende Juni treffen wir noch auf unzählige Flüsse.

Zunächst ging es ohne Ausnahme steil bergauf. Auf einem Weg, den man nur schwer als solches bezeichnen konnte, aber die Ausschilderung bzw. die Markierung eines roten T war weiterhin deutlich etwa alle 80 Meter sichtbar, so dass wir einfach weiterliefen. Die ersten Tiere mit denen wir Bekanntschaft geschlossen haben, oder schließen mussten, waren die Kriebelmücken: Sehr aggressiv und wegen ihrer geringen Größe in der Luft kaum auszumachen. Ein bisschen hochprozentiges Deet hat sie dann aber trotzdem auf eine Distanz von wenigen Zentimetern halten können. Weiter gehts! Die Baumgrenze hatten wir bereits seit einiger Zeit durchbrochen, auch ist die Temperatur rasch gesunken, so dass ich doch sehr froh über das zweite Halstuch war. Inzwischen liefen wir quer einen von getrockneten Rinnsälen überfluteten Hang hinauf, auch hier mit fantastischer Wegweisung für einen nicht vorhandenen Weg. Die Flüsse wurden breiter, der Wind stärker, endlich kam ein gewisses Freiheitsgefühl auf und als wir den ersten Hügel erklommen hatten stockte uns fast der Atem: Eine Aussicht, wie ich sie bisher nur selten erleben durfte, doch was ist dieser eisbedeckte Gipfel da am Horizont? Sollte das tatsächlich der Snøhetta sein? Wunderschön und majestätisch herausragend, umgeben von kleinen Bergkämmen, so unscheinbar nah und dennoch mindestens zwei Tagesmärsche entfernt. Okay, sehen wir vor Ort weiter, zunächst müssen wir unsere erste Etappe beenden, Reinheim.

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Flussüberquerungen gab es viele, barfuß allerdings nur einmal.

Die Landschaft wurde wilder und rauer, die Flüsse waren nicht mehr nur ein Bächlein zum Hinüberspringen sondern vielmehr 12 Meter breite reißende Ströme, die einem, wenn man 40 Zentimeter und tiefer hindurch waten musste, fast die Füße weggezogen hätten. Rückblickend kann ich schon jetzt verraten, dass wir gefühlt an die 15 Flüsse überqueren mussten und dafür waren wir bis jetzt noch erstaunlich trocken geblieben, aber das sollte sich schon am nächsten Tag ändern. Nach dieser Euphorie landete mein rechter Schuh beim Hinüberwerfen während einer Flussüberquerung in einem von meiner Uferseite aus nicht einsehbaren Tümpel, so dass der erste Schritt zum Wassereinbruch bereits geschehen war. Nach einer kurzen Pause staunten wir nicht schlecht, als das Pärchen, welches mit uns in Kongsvoll ausgestiegen ist, von einem vollständig anderen Pfad auf uns zu kam. Hatten wir etwas falsch gemacht? Egal, lassen wir die beiden weiterziehen. Nach unserer Verschnaufpause ging es weiter, denn wir wollten unbedingt unser Ziel Reinheim vor Anbruch der Dunkelheit erreichen. Das mit der Dunkelheit hatte sich allerdings rasch von allein erledigt, nachdem gegen 23 Uhr immer noch keine Spur von einer Dämmerung in Sicht war. Dennoch fanden wir zwei kleinere Hütten auf, welche wir für Reinheim hielten, gemütlich auf einem noch nicht allzu lange fest gewordenen Moorgebiet und an einem großen See mit Wasserfall.

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Der zu diesem Zeitpunkt noch anvisierte Gipfel des Snøhetta.

Die ersten Tropfen erreichten uns schon während des Zeltaufbaus, aber diese sollten uns nicht weiter stören. Kurz nach dem Aufbau unseres Zeltlagers kreuzten zwei Norweger unseren Platz und nach kurzer Unterhaltung wurde mir klar, dass wir uns noch gar nicht in Reinheim befanden. Dennoch beschlossen wir zu bleiben und am nächsten Morgen mit neuen Kräften die Besteigung des Snøhetta anzugehen. Im Nachhinein kann ich mich nicht mehr erinnern, wie wir auf dieses Gespräch kamen aber die Einheimischen haben uns dringend von einer Besteigung des Berges abgeraten, am nächsten Tag sollten wir zu spüren bekommen, weshalb. Ich muss ehrlicherweise zugeben, dass uns jegliche Erfahrung über alpines Klettern und Wandern fehlte. Vorsichtig waren wir gewiss aber wir hätten wohl ohne dieser Warnung trotzdem den Versuch einer Besteigung unternommen, denn der Snøhetta gilt allgemein als gut zugänglich. Die erste Nacht in der Wildnis Norwegens begann wegen der ausbleibenden Dunkelheit sehr spät und wir fühlten uns ein wenig unbehaglich, weil der Untergrund nach jedem stärkeren Fußauftritt wellenartig wackelte.

Von Steinquader zu Steinquader
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Frühstück im Regen: Diese Hütte kurz vor Reinheim war leider verschlossen.

In der Nacht hatte es nur geregnet! Die Zelte waren glücklicherweise dicht und so warteten wir morgens ab bis der Regen aufhörte. Doch wahrscheinlich hätten wir den ganzen Tag warten müssen, also begann bereits der zweite Tag im Fjell recht feucht. Der Boden unter uns war über Nacht noch weiter aufgeweicht. Wir befürchteten, nicht ohne ein wenig Ironie im Blick, im Boden einzubrechen und vom darunter liegenden Moor verschluckt zu werden. Nach einem Müsli mit Wasser und Milchpulver unter dem kurzen Vordach von einer der Hütten packten wir alles zusammen und marschierten los. Leider konnten wir bisher keine Moschusochsen beobachten und das obwohl wir inmitten der Weiden dieser Tiere aus der Eiszeit kampierten. Doch mit Sicherheit hatten sie uns schon ausgemacht, denn die Exkremente dieser Tiere waren vielerorts keinen Tag alt. Gute 90 Minuten von unserem Lager entfernt fanden wir dann endlich Reinheim, auch hier trafen wir wieder auf die beiden vom Bahnhof. Doch jetzt blieb keine Zeit uns in der Hütte aufzuwärmen, wir mussten die alternative Route über den Kamm um den Snøhetta herum finden. Kurz nach Reinheim haben sich uns noch zwei Amerikaner angeschlossen, welche die warmen Hütten von Reinheim verließen, dem Regen trotzten und ebenfalls das zweite Ziel Amotsdalhytta erreichen wollten.

Die Wege waren nun eher eine unwegsame Mischung aus Schlamm, feuchten Wiesen und größeren Wasserflächen. Eigentlich konnte man nicht mehr von Bächen und Flüssen reden sondern nur noch von Inseln, denn das Wasser beherrschte die Landschaft. Allmählich rückte auch der Snøhetta immer näher und ich fragte mich, wo man denn nun um den Berg herum laufen konnte, denn es waren nur Gipfel in Sicht, mal höher mal tiefer, aber immer mit Schnee und Eis bedeckt. Die Wegweisung, welche auch hier hervorragend ausgebaut war, ließ uns den schrägen Hang eines der Berge hinauf laufen. Von Sumpf und Matsch war jetzt nicht mehr viel zu spüren, der Untergrund bestand ausschließlich aus quer durcheinander gewürfelten 1 bis 2 Meter großen Steinblöcken. Der Hang wurde steiler und langsam fühlten wir eine gewisse Unsicherheit aufkommen, welche vor allem dem Gewicht auf unseren Rücken und dem Balancieren auf nassen Steinschrägen geschuldet war. Inzwischen hatte sich das Wetter kräftig abgekühlt und unsere Hosen waren bereits komplett durchnässt. In der Hoffnung, dass der Weg nach der Überquerung des Kamms ein wenig begehbarer wurde, kletterten wir Schritt für Schritt von Steinquader zu Steinquader. Unsere zu Anfang doch eher belächelten Trekkingstöcke wurden während dieser Phase schlicht und ergreifend unverzichtbar.

Schneefelder und Gletscherflüsse
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Ein halb gefrorener See auf dem Dovrefjell-Plateau.

Als wir auf dem Kamm ankamen, war endgültig Schluss mit lustig. Hier oben tobte ein Sturm, der uns trotz unseres Gewichts fast wie Pulverschnee vom Berg geweht hätte. Unser Blick schweifte entlang des Berges über den Kamm hinweg und nach einer Weile konnten wir das nächste rote T ausfindig machen, inmitten eines schrägen Schneefeldes. Am anderen Ende des Feldes kämpften sich die Amerikaner durch Sturm und Schnee, welche bereits einen kleinen Vorsprung herausgeholt hatten. Tiefe Fußabdrücke warnten uns vor besonders lockeren Schneemassen, doch mit ein wenig Glück war der erste Teil des Feldes geschafft. Im folgenden Teil war das Glück dann nicht mehr ganz so groß: Nach schon zwei Schritten versank ich vollständig mit den Beinen im Schnee und das Gewicht des Rucksacks hinderte mich daran hochzukommen. Irgendwie hat es ganze zwei Minuten gedauert, bis ich merkte, dass ich hier nicht einfach wieder aufstehen und weiterlaufen konnte. Als es dann noch ziemlich frostig an den Beinen wurde blieb mir nichts anderes übrig als mich irgendwie den Hang herunterfallen zu lassen, um mich durch die Zugkraft meines Gewichts aus dem Loch befreien zu können. Nach wenigen Metern war dieser Abschnitt bewältigt, aber die Schuhe waren jetzt durch.

Gletscherflüsse vermischten sich mit gefrorenen und zugeschneiten Felspassagen. Ein kurzer Blick auf das GPS prophezeite noch eine Entfernung von 7 Kilometer Luftlinie bis zur Amotsdalhytta. In einer Gegend, wo jeder Kilometer eine einstündige Kletterpartie bedeuten kann war das nicht gerade eine frohe Aussicht. Die Wegweisung führte uns noch mehrere Kilometer über Geröllfelder und Schneepassagen. Inzwischen war das alles aber völlig egal. Unsere Blicke folgten nur noch dem nächsten und übernächsten Tritt, irgendwann würden wir schon ankommen. Blasen und Ähnliches hat man irgendwann nicht mehr wahrgenommen und auch das merkwürdige Ziehen in meinem rechten Fuß habe ich nur nebenbei mitbekommen. Die beiden Amerikaner hatten uns inzwischen abgehängt, so dass wir wieder zu Zweit unterwegs waren. Die letzten Kilometer zur inzwischen wie Weihnachten herbeigesehnten Hütte waren gezeichnet von dutzenden Flussüberquerungen und häufigen Balanceakten auf etlichen Geröllabschnitten. Immer wieder neue und hüttenlose Horizonte stiegen in unser Blickfeld aber irgendwann konnten wir endlich in einem noch sehr weit entfernten Tal unser Tagesziel Amotsdalhytta ausmachen. An einem windgeschützen, spiegelglatten See gelegen und von zahlreichen Schneegipfeln umschlossen fanden wir die wohl beste Berghütte, die man sich vorstellen konnte.

Amotsdalhytta
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Zeit zum Aufwärmen und Trocknen der Ausrüstung.

Wir liefen um die Hütte herum, vorbei am nebendran liegenden Schuppen und einem Haufen gehackter Holzscheitel und öffneten die knarzende, nur locker in den Angeln haltende Tür. Die Amerikaner hatten bereits einen Tee für uns zubereitet und der Kamin wurde von frisch gespaltetem Holz gefüttert. Ein Blick in die Küche lies dann wirklich alle Sorgen von uns abfallen: Hier fand sich ein Vorrat von Nahrungsmitteln für die nächsten sechs Monate. Den Rest des Abends verbrachten wir gemeinsam am Kamin und haben uns dabei Geschichten über unsere bisherigen Touren erzählt, die Vorurteile über Amerikaner und Deutsche ein wenig durch den Kakao gezogen und uns gegenseitig neue Kartenspiele beigebracht. Nach dieser Etappe war uns klar, dass es lebensgefährlich gewesen wäre, den Snøhetta ohne Erfahrung und ohne alpiner Grundausstattung zu besteigen, denn der Weg auf den Snøhetta war vollständig von einer meterdicken Eisschicht und altem, ausgehöhltem Schnee bedeckt. Den nächsten Abschnitt wollten wir am übernächsten frühen Morgen gegen 3 Uhr in der Frühe angehen. Aufgrund der Streckenlänge von 26 Kilometer, den aberwitzigen norwegischen Gehzeiten und unseren bisherigen Erfahrungen mit der hiesigen Begehbarkeit planten wir eine Laufzeit von mindestens 12 Stunden ein. Leider sollte alles ganz anders kommen.

Als wir am nächsten Morgen mit einem Waffeleisen (wir haben doch tatsächlich ein Waffeleisen in der Küche gefunden) frische Waffeln gebacken hatten, wollte ich anschließend kurz ein wenig frische Luft schnappen und noch einmal das atemberaubende Panorama vor unserer Haustür genießen. Ich fuhr in meinen linken Schuh rein, und in meinen rechten, bin die Treppe vor der Holztür hinunter und wäre fast vornüber auf den Steinen gelandet. Was war denn das? Schwer zu glauben was da eben passierte habe ich den Schmerz unterdrückt und dachte mir das kann nicht wahr sein! Der weitere Versuch einen Schritt zu tun brachte die Gewissheit: Das, was am Tag zuvor am rechten Fuß gezogen hatte war zu einer ausgereiften Achillessehnenentzündung herangewachsen. Aus Erfahrung mit einem Mitbewohner wusste ich, dass es durchaus mehrere Wochen in Anspruch nehmen kann, bis man den Fuß wieder normal einsetzen kann und im Gelände des Dovrefjells noch etwas länger. Nun ja, vielleicht ist es doch was anderes, erstmal wieder Reinhumpeln und mit anderen Gedanken ablenken lassen. Die Amerikaner hatten inzwischen ihre nächste Etappe in Angriff genommen, aber diese unterschied sich sowieso von der Unseren, denn sie wählten eine Alternativroute. Eventuell würden wir sie auf der übernächsten Etappe wiedersehen, dort müssten unsere Wege wieder aufeinander treffen. Wir entschieden uns noch einen Tag länger zu warten, in der Hoffnung, die längere Etappe in etwas besserer Verfassung angehen zu können.

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Idyllisch: Amotsdalhytta bei Sonnenschein am nächsten Morgen.

An diesem weiteren Abend erreichte das Pärchen, welches wir schon öfter auf unserem Wege getroffen hatten, die Amotsdalhytta. Wir erfuhren, dass die beiden Schweizer sind und aus Basel stammen. Sie hatten sich nach dem Start in Kongsvoll verlaufen, was erklärt, weshalb sie von einem völlig anderen Weg auf uns gestoßen waren. Und sie hatten den verregneten Tag in Reinheim verbracht, eine Entscheidung, die wir hätten auch treffen sollen. Glücklicherweise war der eine ein Apotheker, der auch entsprechende Mittelchen dabei hatte: Von der Muskelentspannungssalbe bis hin zu extrem starken Schmerzmitteln war alles vorhanden. Er bat mir an, diese für den Notfall mitzunehmen, also überlegten wir weiter: Bis kurz nach der nächsten Hütte, gäbe es die Möglichkeit über eine Abkürzung das wesentlich nähere Ziel Gjøra zu erreichen und die Tour damit abzukürzen. Wie wir schnell mitbekommen haben gab es sowieso keinen Handyempfang in unserem Tal womit wir jemanden zu Hilfe hätten rufen können. Dachte ich tatsächlich über den Ruf der Bergwacht nach? In der Schweiz bezahlt man stolze 8000 Euro für einen solchen Einsatz, also habe ich diesen Gedanken schnell wieder verworfen.

Kurzes Einsiedlerleben
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Adios Dovrefjell, ab hier hieß es: Zurück in den Wald!

Der nächste Tag brach an und der Versuch erneut in den Schuh zu kommen und ein paar Schritte zu gehen wurde sofort mit einem noch heftigeren Stechen quittiert als noch am Tag zuvor. Das fängt ja gut an, sollte ich mich wirklich mit Schmerzmitteln vollpumpen? Es bestünde auch die Möglichkeit, weitere Tage in dieser Hütte zu verweilen und mit einem anderen Flieger zurückzufliegen, aber begeistern konnte ich mich für diesen Gedanken nicht. Jetzt hänge ich doch tatsächlich mitten in den norwegischen Bergen fest und weiß nicht, wie ich hier herauskommen soll. In der letzten Nacht waren noch ein paar Leute mit einem Husky gekommen, vielleicht hatten die eine Idee parat? Inzwischen stand für mich fest, dass ich in den nächsten Tagen keinen Schritt mehr würde tun können und ich dachte tatsächlich über einen Notruf nach. Glücklicherweise waren die in der Nacht eingetroffenen Männer einheimische Jäger aus Oppdal, unserem ursprünglichen Endziel. Nach einer kurzen Schilderung der Geschehnisse, war für die Leute klar, dass ich die nächsten Wochen hier festsitzen würde, sie boten mir an, auf einen der Gipfel zu klettern und die Bergrettung zu rufen. Schon jetzt kam ich mir irgendwie merkwürdig vor, wie in einem Film. Der Abbruch einer doch etwas länger geplanten Tour ist wohl immer schmerzhaft, aber dass ich tatsächlich ein Fall für die Bergrettung werden würde hätte ich mir niemals ausgemalt. Nach Absprache hielten wir es für das Beste, wenn Marcel die Tour noch zu Ende läuft und wir uns an einem noch zu vereinbarenden Ziel treffen würden. Keine 90 Minuten hat es gedauert, bis ich die ersten Rotorengeräusche orten konnte, der Einheimische war schnell und ich war ihm sehr dankbar dafür. Das war es nun also mit dem Dovrefjell und irgendwie wurde mir erst jetzt klar, dass ich die Tour nicht mehr zu Ende machen würde. Die ganze Vorbereitung für die Katz, ich war enttäuscht!

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Leben in den Wäldern: In Norwegen dank Jedermannsrecht kein Problem.

Der Flug über das Dovrefjell war natürlich beeindruckend. Kein langweiliger Aussichtsflug sondern die gewohnte Routine wenn es schnell gehen muss, tief durch die Täler und knapp über die Gipfel. Als ich erfahren habe, dass ich nichts für die Rettung zu bezahlen hatte war ich richtig froh, denn in Norwegen ist die Bergwacht staatlich finanziert. Sie setzten mich am Rande des Gebirges ab, in der Stadt Dombås, und sagten mir, dass man nicht viel mehr tun könne als die Belastung des Fußes zu minimieren und ein Hotel in der nächstgrößeren Stadt Lillehammer zu nehmen. Allerdings hatte ich doch alles was ich brauchte zur Hand bzw. auf dem Rücken und große Lust auf Stadt und Leute war definitiv nicht vorhanden. So beschloss ich also den nächsten Gebirgsfluss aufzusuchen, was leider nur sehr langsam und humpelnd voran ging. Am Abend fand ich dann die perfekte Stelle zum Aufbau eines kleines Lagers für die nächsten vier Tage. Am Rand der großen norwegischen Wälder und einem wilden Fluss mit zahlreichen Stromschnellen, an frischem Wasser würde es mir hier nicht mangeln und auch Nahrung war noch genügend im Rucksack vorhanden. Hier habe ich jetzt mein Einsiedlerdasein gelebt, vier Tage lang ohne Kontakt zu anderen, versucht mich mit einem Messer zu rasieren, Holz geschnitzt, ein behelfsmäßiges WC aus Ästen und Wurzeln gebaut und die Ausrüstung gereinigt. Gern hätte ich die nähere Umgebung erkundet, aber das war einfach nicht drin und daher waren die folgenden Tage etwas lang, dafür aber an einem Ort, wo man mehr als einmal die Seele baumeln lassen konnte. Irgendwie hätte ich niemals mit solch einem Verlauf unserer ersten Trekkingtour gerechnet, aber das ist wohl die Würze beim Trekking und nichts wäre langweiliger als eine Tour bei der nichts Unerwartetes passiert.

Nach diesen vier Tagen ist Marcel wieder zu mir gestoßen und wir genossen ein letztes Mal die helle Nacht in der rauhen Natur Norwegens. Am nächsten Tag ging es zurück nach Oslo und am Tag darauf wieder ins alltägliche Deutschland nach Freiburg. Aber schon im Luftraum über Deutschland wurde mir klar, dass mich die endlose Weite und raue Natur gepackt hat und ich irgendwann zurück möchte, zurück nach Norwegen.

Nachtrag

Nachdem jetzt mehrere Monate ins Land gezogen sind und alles gut ausgegangen ist, muss ich sagen, dass die gemachten Erfahrungen einzigartig waren und wertvoll für zukünftige Touren sind. Abschließend noch ein paar unserer Erkenntnisse, vor allem an diejenigen, die zum ersten Mal in den norwegischen Bergen wandern gehen wollen:

  • Das Wetter kann extrem hart sein! Im Zweifelsfall Einheimische fragen und notfalls abwettern.
  • Auch im Hochsommer kann es ab 1000 Meter Höhe unter Null Grad Celsius haben, Handschuhe und ein guter Schlafsack sind dann Gold wert.
  • Wer das erste Mal in Norwegen unterwegs ist sollte nicht allein sein. Handyempfang gibt es nur selten und wer sich verletzt muss teilweise Tage warten bis jemand vorbeikommt.
  • Bis Anfang Juli können große Schneefelder und Gletscherflüsse den Weg unpassierbar machen.
  • Wasserfilter braucht man in den norwegischen Bergen praktisch nie, das Wasser ist glasklar und kalt.
  • Gaskartuschen gibt es fast überall zu kaufen. Nahrung ist in den Hütten meist vorhanden, aber teuer.
  • Karte und Kompass sind unbedingt empfehlenswert.